Papierknappheit treibt böse Blüten

Wir erschaudern beim Blättern in den Akten

Im Sommer 1948 reichte eine Mitgliedsorganisation ihre Gewinn- und Verlustrechnung beim Paritätischen Hessen ein – getippt auf die Rückseite eines Formulars aus der NS-Zeit: „Antrag auf Unfruchtbarmachung aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.  Auf der Rückseite des nächsten Papiers: Ein Formular, mit dem Menschen im Sinne dieses Gesetzes denunziert werden konnten, unter anderem, weil sie an „angeborenem Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „erblicher Blindheit“ oder „schwerem Alkoholismus“ litten.  

Wir rätseln: War die Denkweise der NS-Zeit auch mehr als drei Jahre nach Kriegsende noch so nahe, dass man nichts dabei fand, diese Formulare zu recyclen? Oder war die Papierknappheit der Grund, die in der Nachkriegszeit unter anderem auch das Presse- und Verlagswesen massiv einschränkte? So führte sie beispielsweise dazu, dass die Frankfurter Rundschau im Sommer 1946 die Auflage herabsetzen und 65.000 Abonnements kündigen musste.

Trotzdem: Dieser unbekümmerte Umgang mit menschenverachtenden Formularen erschreckt uns, denn es fehlte wohl auch das nötige Unrechtsbewusstsein. Das Bundesjustizministerium schätzt, dass in Westdeutschland – bis zur Änderung des Betreuungsgesetzes 1992 – jährlich etwa 1000 Mädchen mit einer geistigen Behinderung sterilisiert wurden.