Vom Wert des freien Spiels

Die Frankfurter Kinderladen-Bewegung auf Erfolgskurs

Es ist mehr als 30 Jahre her, dass Barbara Rendtorffs Kinder im Zaubertiger waren. Doch wenn die Tochter und der Sohn heute bei Familientreffen zusammenkommen, erzählen sie oft noch von ihren Erlebnissen im Kinderladen. „Meine Kinder blicken auf diese Zeit mit großer Begeisterung zurück“, sagt Barbara Rendtorff.

Der Kinderladen Zaubertiger an der Bockenheimer Landstraße in Frankfurt wird 1968 als Alternative zu städtischen und kirchlichen Kindergärten von einer Elterninitiative ins Leben gerufen. Sie setzt dem damals üblichen autoritären Erziehungssystem ein reformpädagogisches Konzept entgegen. „Die Bezugspersonen im Kinderladen haben das Programm stark von den Interessen und Wünschen der Kinder aus gestaltet“, erinnert sich Barbara Rendtorff, die damals noch mitten im Soziologiestudium steckt und später bei der Frankfurter Frauenschule arbeitet.

Das freie Spiel hat im Kita-Alltag große Bedeutung:  Die Kinder haben vielfältige Möglichkeiten, sich auszuprobieren und soziale Kompetenzen zu entwickeln. Die Erzieher*innen heißen Bezugspersonen, aber das ist nur eine Statusbezeichnung. Denn im Alltag werden sie selbstverständlich von Kindern wie Eltern mit dem Vornamen angesprochen. „Es gab so einen Kollektivgedanken zwischen Eltern und Erzieher*innen“, sagt Barbara Rendtorff. Überhaupt gehören die mehrheitlich links und ökologisch orientierten Eltern zum Kinderladen-Alltag dazu. Die Mitarbeit ist obligatorisch: sei es beim Essen-Kochen, Putzen oder Renovieren, gelegentlich auch bei der Betreuung.

Komplizierte Kocherei
Kompliziert wird es mit der Kocherei für die Kinder nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Anfang Mai 1986 erreicht mit den Regenwolken aus dem Osten die Radioaktivität auch Hessen. Spielplätze werden geschlossen und bei der Wahl der Essenzutaten müssen die Eltern nun ständig überlegen: Was könnte verstrahlt sein, was ist okay? Die unterschiedlichen Grade von Besorgtheit bei den Eltern sorgen mitunter für Spannungen, beispielsweise bei der Frage, ob das Kind beim Ausflug dabei sein darf oder daheim bleibt, weil es vielleicht in der zu Natur zu viele Becquerel Radioaktivität abbekommen könnte.

Wie viele von Eltern gegründete Kinderläden gehört auch der Zaubertiger zur Gesellschaft für Jugendarbeit und Bildungsplanung e.V. (GfJ) In ihr schließen sich ab 1969 zahlreiche freie Einrichtungen zusammen, um ihre Interessen nach außen besser vertreten zu können und öffentliche Mittel von der Stadt Frankfurt und der Landesregierung zu erhalten. „Vier Mark pro Kind und Woche gibt es damals“, sagt Markus Drewniak. Der Pädagoge arbeitet seit 1989 im Schülerladen Westend, der sich heute in der Feuerbachstraße befindet, und engagiert sich seit mehr als 20 Jahren im Vorstand der GfJ.

Geschichte dokumentiert
Der 57-Jährige hat eine Dokumentation über die Geschichte der GfJ zusammengestellt. „Eigentlich wollten wir 2020 das 50-jährige Bestehen der GfJ feiern. Aber wegen der Corona-Pandemie musste das abgesagt werden“, so Drewniak. Mit der Dokumentation möchte er nicht nur die Geschichte Interessierten zugänglich machen, sondern auch Michael Burbach würdigen, der 2017 gestorben ist. Ohne dessen Engagement hätten die freien Kita-Träger in Frankfurt nicht die einzigartige Rolle, die sie heute spielen“, sagt Drewniak. Burbach, seit 1984 Geschäftsführer der Gesellschaft für Jugendarbeit, streitet engagiert mit Eltern und Pädagog*innen für die Interessen der freien Einrichtungen und deren Förderung. Mit Erfolg: Nach dem überraschenden Wahlsieg von Rot-Grün 1989 beschließt der neue Magistrat das Sofortprogramm Kinderbetreuung, durch das ab Sommer 1990 die Finanzierung der freien Initiativen deutlich verbessert und den städtischen und konfessionellen Einrichtungen weitgehend gleichgestellt wird.

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Die Reform der Reform
Und so ist auch heute ein 45-jähriger Zaubertiger immer noch für Kinder und Eltern da. Am pädagogischen Konzept wurde im Laufe der Jahre einiges „überarbeitet, verfeinert, ergänzt und verworfen“, wie das Kinderladen-Team auf der Homepage schreibt. „Auch heute würden wir den Arbeitsstil als antiautoritär-demokratisch bezeichnen. Es sind zwar wieder mehr Regeln und Grenzen in die Alltagsarbeit eingeflossen, da man mit den Jahren merkte, dass die Radikalität der Reform nicht in allen Bereichen positive Auswirkungen auf die Kinder hatte…“ Aber nach wie vor gilt: „Das Kind besitzt eine Autonomie, aus welcher heraus es seine Bedürfnisse und Wünsche äußert. So ist der Tagesablauf zu einem großen Teil von den Kindern bestimmt. Ebenso wichtig ist es uns jedoch, den Teil des Kindes zu berücksichtigen, der auf den Erwachsenen angewiesen ist. Das heißt, ihm dort Anregungen zu verschaffen, wo es sich noch nicht auskennt, ihm Felder zu eröffnen, in denen es sich ausprobieren kann.“

Die Dokumentation zur Geschichte der GfJ mit vielen spannenden Dokumenten und Zeitungsartikeln ist unter diesem Link zu finden. 

Mit mehr als 150 Einrichtungen und über 6.000 Betreuungsplätzen sowie etwa 2.000 Beschäftigten ist die gemeinnützige BVZ GmbH der größte freie Träger von Horten und Kitas in Frankfurt. Zu ihr gehören Krabbelstuben und Krippen, Kinderläden und Kindergärten, Schülerläden und Horte.Die BVZ GmbH ist hervorgegangen aus der Gesellschaft für Jugendarbeit und Bildungsplanung e.V. (GfJ) und dem „Verein zur Unterstützung berufstätiger Eltern e.V. sowie der Gesellschaft zur Förderung betrieblicher und betriebsnaher Kindereinrichtungen. Heute ist die GfJ e. V. alleinige Gesellschafterin der gemeinnützigen BVZ GmbH.