Die 1960er Jahre

Reform der Heimpädagogik, Werkstätten für Menschen mit Behinderung

Am 1. Juni 1962 tritt das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in Kraft. Bis dahin galt als Prinzip der staatlichen Fürsorge, dass der Staat sich zwar um die Armen zu kümmern hatte, diesen aber kein individuelles Recht auf die Unterstützung zukam. Ab jetzt erhalten Menschen, die sich nicht selbst helfen können und auch nicht auf die Hilfe anderer Verpflichteter zurückgreifen können, einen Rechtsanspruch auf die Sozialhilfe – mit Leistungen zum Lebensunterhalt, die in Form von Regelsätzen bemessen werden, und als Hilfen in besonderen Lebenslagen.

Bei aller Kritik an der behördlichen Umsetzung des Gesetzes und der Höhe der Leistungen, ist das neue Gesetz gleichwohl ein Fortschritt.  Erhebliche Bedeutung haben die im BSHG formulierten Grundsätze über die Zusammenarbeit zwischen den Trägern der Sozialhilfe und der freien Wohlfahrtspflege. Danach sollen die Kommunen als Träger der Sozialhilfe von der Durchführung eigener Maßnahmen absehen, wenn die Hilfe im Einzelfalle durch die freie Wohlfahrtspflege gewährleistet ist. Nach dem so genannten „Subsidiaritätsprinzip“ wird den Trägern der freien Wohlfahrtspflege ein gewisser Vorrang eingeräumt und zugleich eine finanzielle Förderung zugesichert. Für viele Mitgliedsorganisationen des Paritätischen, die insbesondere Hilfen in besonderen Lebenslagen anbieten, werden diese Regelungen zu einer verlässlichen Grundlage zur Planung und Finanzierung ihrer Angebote.   

Auch bei den Mitgliederversammlungen des Landesverbands sind die Auswirkungen des BSHG Thema von Fachvorträgen.

Im Nachkriegsdeutschland ist die Heim- und Fürsorgeerziehung ganz überwiegend noch eine autoritäre Anstaltserziehung. Häufig ist sie geprägt von Disziplinierung und Unterdrückung der jungen Menschen. Die Vereinten Nationen hatten zwar am 20. November 1959 die Erklärung der Rechte des Kindes beschlossen, aber davon ist in der Lebensrealität vieler Kinder und Jugendlicher noch nichts zu spüren.

Ende der 1960er-Jahre bringt die APO (Außerparlamentarische Opposition) die „Heimkampagne“ gegen Missstände in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche hervor. Einer der Schwerpunkte liegt in Frankfurt. Die Kampagne gibt erste Impulse für dringend notwendige Reformen. 1969 setzt die hessische Landesregierung einen Beirat für Heimerziehung ein, der die damals aktuelle Situation prüfen und Grundlagen für eine moderne Heimpädagogik erarbeiten soll. Erste Veränderungen greifen jedoch erst ab den 1970er Jahren und bringen auch entsprechende Anforderungen an die Qualifizierung von Fachkräften mit sich. Auch im Bereich der Hilfen für Menschen mit Behinderung gerät einiges in Bewegung. Es entstehen die ersten Werkstätten für Menschen mit Behinderung. In Marburg weiht das Studentenwerk 1969 mit dem Konrad-Biesalski-Haus das erste integrative behindertengerechte Wohnheim ein.

Aus dem Zeitgeschehen in den 1960ern

 

1961

Mit dem Bau der Mauer wird 1961 die Grenze zwischen Hessen und Thüringen so gut wie unüberwindbar.

Der Zivildienst wird eingeführt. Als echte Alternative zum Wehrdienst und zahlenmäßig bedeutsam wird er jedoch erst gegen Ende der 1960er.

Die Antibabypille kommt auf den Markt, wird aber zunächst nur sehr restriktiv von Ärzt*innen verschrieben. Erst ab Ende der 1960er Jahre tritt sie gegen den Widerstand der katholischen Kirche ihren Siegeszug als Verhütungsmittel an. Eine Folge ist der Pillenknick: Es werden deutlich weniger Kinder geboren.

Erstmals wird in der Bundesrepublik eine Frau in ein Ministeramt berufen: Die Frankfurter Juristin Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) hat das das Amt der Gesundheitsministerin bis 1966 inne.

Es verdichten sich Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen dem Medikament Contergan und schweren Fehlbildungen bei Neugeborenen. Das Pharmaunternehmen Grünenthal nimmt das Medikament vom Markt. Viele Frauen hatten das Beruhigungs- und Schlafmittel auch zur Bekämpfung der typischen Morgen-Übelkeit in der frühen Schwangerschaft genommen.

1962

Der Hessische Landtag beschließt das „Gesetz über die Schutzimpfung gegen Kinderlähmung mit Lebendimpfstoff“. Es ermöglicht eine große Polio-Impfkampagne.

Aus einer Polizeiaktion gegen das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ wegen angeblichen Landesverrats geht die freie Presse gestärkt hervor.

Die SPD gewinnt bei den Landtagswahlen in Hessen mit 50,9 Prozent die absolute Mehrheit.

1963
Ludwig Erhard wird neuer Bundeskanzler, tritt aber 1966 zurück

1964
Das „Gesetz zur Förderung eines freiwilligen soziale Jahres“ tritt in Kraft

1965
Im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess verkündet das Frankfurter Schwurgericht sein Urteil gegen 22 Angeklagte.

1966
Die erste Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik löst die CDU/FDP-Koalition ab. Bundeskanzler wird Georg Kiesinger. Weil im Parlament keine wirkliche Opposition mehr gegeben ist, formiert sich eine „außerparlamentarische Opposition“, kurz APO genannt. Berlin und Frankfurt sind Zentren der neuen politischen Strömung. Studentische Demonstrationen in Frankfurt gegen den Vietnamkrieg.

1967
Der 26-jährige Student Benno Ohnesorg wird am 2. Juni bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin von einem Polizisten erschossen. Die Tat löst Massendemonstrationen in ganz Westdeutschland aus. Die Student*innen-Proteste werden radikaler.

1968
Das Bonner Parlament beschließt die Notstandsgesetze, die weitgehende Einschränkungen der Grundrechte bei einem innerem Notstand, Verteidigungsfall und Spannungsfall ermöglichen. Nach Brandanschlägen auf zwei Kaufhäuser auf der Frankfurter Zeil werden vier radikalisierte Anhänger der Außerparlamentarischen Opposition (APO) festgenommen, darunter Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Sie werden später mit Ulrike Meinhof zu den bekanntesten Akteur*innen der Terrororganisation „Rote Armee Fraktion“ gehören.  Student*innenführer Rudi Dutschke wird vor Ostern in Berlin von einem Attentäter durch Schüsse schwer verletzt. Es folgen schwere Auseinandersetzungen zwischen Student*innen und der Polizei. Auch in Frankfurt am Main kommt es zu den so genannten „Oster-Unruhen“.

1969
Die erste sozialliberale Koalition stellt mit Kanzler Willy Brandt die Regierung.
Die Strafbarkeit von Ehebruch und Homosexualität zwischen Erwachsenen wird abgeschafft.
Reform des Nichtehelichenrechts: „Uneheliche“ Kinder werden ehelichen Kindern gleichgestellt.